Aus GWR 473 Schwerpunkt Ableismus und Barrieren (brechen)
Beratungsarbeit und Vernetzung für Frauen mit Behinderungen
Seit dreißig Jahren bietet das Heidelberger Bildungs- und Beratungszentrum BiBeZ e. V. selbstorganisierte Unterstützung für Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen an. Im Interview mit der Graswurzelrevolution stellt Nicoletta Rapetti die Arbeit des Projekts vor. (GWR-Red.)
GWR: Kannst du zunächst ein paar Worte zu eurem politischen Ansatz und Selbstverständnis sagen?
Nicoletta Rapetti: Besonders ist, dass wir ein eigener Verein sind, also keinen Träger über uns haben. Wir können damit so frei wie nur möglich und vor allem unabhängig arbeiten. Das ermöglicht uns, auch auf politischer Ebene agieren zu können. Je nach Trägerschaft und Finanzierung ist die politische Arbeit nämlich nicht möglich. Allerdings glauben wir, dass Einzelfallarbeit in unserem Bereich, wo es um gesellschaftliche Ungleichheiten geht, nur Sinn ergibt, wenn frau gleichzeitig politisch agiert und damit auch strukturell versucht, Dinge zu verändern.
Zudem ging der BiBeZ e. V. aus der Krüppelbewegung hervor. Es geht also darum, Selbstbestimmung zu leben und zu ermöglichen. Wir als Frauen mit Behinderungen wollen nicht mehr von Menschen beraten werden, die keine Erfahrung mit diesem Thema haben, aus der Normgesellschaft stammen und eine/n dann von oben herab beraten. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstermächtigung. Menschen mit Behinderungen müssen selbst zu Wort kommen, sich politisch selbst für ihre Belange einsetzen können und selbst nicht nur an der Gesellschaft teilhaben, sondern ganzer Teil von ihr sein. Deshalb gibt es unsere Stelle, eine Instanz, in der nur Frauen mit Behinderung arbeiten dürfen, die ihrerseits anderen Frauen mit Behinderungen helfen, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Und gleichzeitig setzen wir uns auf politischer Ebene für diese Frauen und für uns selbst ein. Wir sind nicht unparteiisch, sondern beziehen klare Position, die wir transparent machen und reflektieren.
Außerdem arbeiten wir in unserem Team hierarchiefrei. Wir handeln alles basisdemokratisch aus und sind damit in hohem Maß selbstverantwortlich. Und wir machen alles, von der Finanzakquise über die Beratungs- und Bildungsarbeit bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit.
Worin bestehen eure praktischen Arbeitsschwerpunkte? Welche Angebote habt ihr?
Wir machen vor allem Beratungs- und Bildungsangebote. Zur Beratung kann jede und jeder kommen, die oder der Fragen oder Anliegen zum Thema Behinderung und chronische Erkrankung hat. Unser Beratungsangebot ist seit letztem Jahr für alle Geschlechter offen und umfasst jegliche Fragen rund um Schwierigkeiten im Job wegen der Behinderung, Fragen zu Schule, Ausbildung und Studium mit Behinderung, Fragen zur Erwerbsminderungsrente, zur Eingliederungshilfe oder einfach nur Fragen dazu, wie frau mit der eigenen Behinderung im Alltag umgeht und klarkommt.
Unser Bildungsangebot umfasst Workshops und Seminare für unsere Klientinnen, beispielsweise zu den Themen Selbstbewusstsein und Empowerment, Selbstbestimmung, Sexualität und vieles andere mehr. Wir geben zudem auch Seminare für Fachpersonen, Angehörige oder sonstige Interessierte. Wir haben regelmäßige Angebote für unsere Klientinnen, die einmal im Monat stattfinden, wie unseren Kreativtreff oder unseren Gesprächskreis. Diese dienen auch dazu, dass die Frauen sich untereinander kennenlernen und vernetzen können, um sich gegenseitig zu stärken. Zudem sind wir in verschiedenen Netzwerken Heidelbergs aktiv wie der Frauen-AG oder dem Bündnis gegen Armut und Ausgrenzung.
Welche geschlechtsspezifischen Probleme gibt es für behinderte Frauen – also zusätzlich zu den ohnehin bestehenden ableistischen Barrieren in allen Lebensbereichen?
Behinderte Frauen sind wesentlich stärker von den Themen Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit betroffen als behinderte Männer. Hier treffen sich die gesellschaftsbedingten Nachteile von Frauen mit den gesellschaftsbedingten Nachteilen von behinderten Menschen und ergeben den Faktor der Doppeldiskriminierung. Behinderte Frauen sind wesentlich öfter arbeitslos, und wenn sie arbeiten, sind sie nur in Teilzeit beschäftigt, arbeiten oft im sozialen unterfinanzierten Bereich und in prekären Arbeitssituationen. Das erhöht ihr Armutsrisiko drastisch. Da Frauen generell als das schwache Geschlecht gelten, gelten behinderte Frauen erst recht als schwach und nicht leistungsfähig.
Behinderte Frauen mit Familie sind stärker davon betroffen, dass sie sich um Haushalt und Kinder kümmern müssen. Und dann wird ihnen oftmals noch die Rolle als Frau aberkannt, da sie nach wie vor häufig als unattraktiver gelten als Frauen ohne Behinderung und sehr stark mit seltsamen Frauenbildern konfrontiert werden, die wir eigentlich längst überwunden haben sollten. Behinderte Frauen sind wegen all dieser Faktoren oft nicht sehr selbstbewusst und zweifeln stark an sich und ihren Fähigkeiten, denn genau das wird ihnen widergespiegelt: das Bild der schwachen armen und schutzlosen Frau, die hilfebedürftig, nicht leistungsfähig und abhängig ist und selbst nicht in der Lage ist, etwas zu erreichen.
Wenn heute darüber gesprochen wird, dass es zu wenige Frauen in Führungspositionen gibt, dann kann ich nur sagen: Behinderte Frauen in Führungspositionen gibt es erst recht nicht. Und wer das Thema anspricht, wird an den zumeist irritierten Reaktionen darauf im Sinne von „Irgendwann ist es ja auch mal gut mit den Forderungen“ merken, wie verhärtet die Ungleichheit nach wie vor noch ist.
Ein wichtiger Meilenstein für eure Initiative war in den 1990er-Jahren die Ausstellung „Geschlecht: Behindert – Merkmal: Frau“. Was war das Konzept des Projekts, und welche Erfolge wurden damit erzielt?
Bei der Ausstellung damals begaben sich die Frauen bewusst in klischeebehaftete Frauenbilder, um sich dann wieder von diesen zu lösen. Es ging darum zu zeigen, dass auch Frauen mit Behinderungen eben Frauen sind, attraktive, sexuelle Wesen und keine Neutren. Sich in die Rolle als Frauen zu begeben, erscheint dann erstrebenswert, wenn frau noch nicht mal das ist. Frau kann sich erst dann von solchen Vorstellungen lösen, wenn frau sie erreicht, wenn frau sich in sie begibt; erst danach kann frau sich selbst als freies Wesen neu erfinden. Darum ging es den Frauen: In erster Linie wollten sie sich befreien und sich selbst entdecken und finden, und in zweiter Linie wollten sie natürlich auch ganz gerne damit provozieren und ein anderes Bild von Frauen mit Behinderungen in die Welt setzen, eines von attraktiven selbstbewussten Frauen, denn das Bild von pflegebedürftigen armen geschlechtsneutralen Wesen hatten sie eindeutig satt.
Die Ausstellung hatte den Erfolg, dass viele Menschen sie gesehen haben und mit der Thematik und den Bildern konfrontiert wurden. Die Meinungen waren natürlich gespalten, was bedeutet, dass die Aussage in jedem Fall wichtig und neu und die Ausstellung damit erfolgreich war.
Eben wurde eine neue Fotoausstellung von uns mit Namen „Selbst-Bewusst-Sein – 36 shades of being normal“ auf den Weg gebracht, die auf Wanderschaft geht, gerne bei uns angefordert werden kann und die Themen von damals ins Heute zu übertragen sucht. Heute geht es für behinderte Frauen nicht mehr darum, über den Umweg des Frauenbildes zu sich selbst zu finden. Heute geht es darum, sich grundsätzlich von gesellschaftlichen Zuschreibungen zu befreien und dem von außen gezeichneten Bild von Behinderung das eigene entgegenzusetzen und es einfach in die Welt zu stellen und sichtbar zu machen. Das haben wir mit dieser Ausstellung versucht.
In vielen Bereichen hat es deutliche Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen gegeben – zumindest auf dem Papier. An welchen Stellen seht ihr besonders dringenden Veränderungsbedarf?
Vor allem gab es Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkünften und Vermögen, wenn Menschen mit Behinderungen Eingliederungshilfe beziehen. Es lohnt sich mittlerweile auch für Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, da sie nicht alles wieder für ihre Hilfen abgeben müssen. Und das Thema Behinderung und Inklusion ist nun wesentlich bekannter als früher und nicht überall Neuland, und auch wenn oft nicht danach gehandelt wird, ist das Paradigma der Selbstbestimmung keines, das immer wieder gerechtfertigt werden muss.
Dagegen lässt die Barrierefreiheit der Öffentlichkeit nach wie vor stark zu wünschen übrig. Auch die ärztliche Versorgung für Menschen mit Behinderungen ist schwierig aufgrund mangelnder Barrierefreiheit. Und trotz Fachkräftemangel sind Menschen mit Behinderung immer noch stark von Arbeitslosigkeit betroffen oder schaffen es erst gar nicht auf den ersten Arbeitsmarkt mangels dessen Flexibilität. Institutionelle Unterstützung ist nach wie vor schwierig zu beantragen und voller bürokratischer Hürden. Und teilweise müssen Anträge für Hilfsmittel oder ähnliches sogar noch stärker begründet und schärfer eingefordert werden, weil die finanziellen Mittel knapper werden.
Es gibt also auf der einen Seite Verbesserungen, auf der anderen Verschlechterungen durch Ressourcenverknappung und den Mangel an neuen kreativen Ideen, wie alle Menschen gut unterstützt werden können, ohne dass dies den Staat immer mehr Geld kostet. Hilfe ist individualisiert, wie die Menschen selbst auch. Konzepte und Ideen, die in Richtung wahrhaftige nachbarschaftliche Unterstützung gehen, gibt es kaum. Damit würden ja auch die Einnahmequellen vieler Wohlfahrtsverbände gefährdet, denn auch die Soziale Arbeit ist letztlich kapitalistisch orientiert.
Vielen Dank für das Interview und eure wichtige Arbeit!
Interview: Silke