Crip Time

Aus GWR 473 Schwerpunkt Ableismus und Barrieren (brechen)

Das Konzept der „Krüppelzeit“

Barrieren, Ausgrenzung und eine Verwertungslogik, die von Ableismus Betroffene diskriminiert, sind trotz gegenteiliger Ansprüche in linken Bewegungen und Gruppen keine Seltenheit. Dass es auch anders geht, zeigt Lian Otter anhand des Konzepts der Crip Time. (GWR-Red.)

„Sorry, wir machen schon so viel und sind alle so ausgebrannt, das schaffen wir jetzt nicht auch noch!“, ist eine typische Reaktion, die ich höre, wenn ich versuche, das Thema Zugang und Ableismus in linke Bewegungen einzubringen.
Das ärgert mich, weil es nicht wirklich ehrlich ist, denn es ist ja eine Prioritätenfrage, wo man seine Energie reinsteckt. Ehrlicher wäre es zu sagen: „Hey sorry, Barrierefreiheit ist uns gerade weniger wichtig.“ Aber das will man nicht sagen, weil es das coole linke offene Selbstbild zu erhalten gilt. Und gegen Behinderte hat man ja nichts, das muss doch reichen! Bloß dass es halt nicht reicht, nichts gegen Behinderte zu haben, wenn man gesellschaftlich vermittelten und unbewusst verinnerlichten Ableismus nicht bearbeitet und die behindernden Strukturen nicht verändert, um Zugang zu schaffen.

Zeit anders denken

Die Reaktion ist also unehrlich, und zudem denke ich dann immer: „Tja, wenn ihr mehr Behinderte in euren Gruppen hättet, dann würdet ihr vielleicht nicht so sehr ausbrennen“. Behinderte haben das Konzept der Crip Time (deutsch: „Krüppelzeit“) erfunden. Hier von Alison Kafer erklärt: „Crip Time fordert, dass wir unsere Vorstellungen davon, was in einer bestimmten Zeit passieren kann und sollte, neu überdenken. Es fordert, dass wir erkennen, dass unsere Annahmen, ‚wie lange die Dinge dauern‘, bestimmte Köpfe und Körper als Referenz haben. Anstatt behinderte Körper und Köpfe zu verbiegen, damit sie sich nach der Uhr richten, verbiegt die Crip Time die Uhr, um sie nach behinderten Körpern und Köpfen zu richten“ (Alison Kafer, „Feminist, Queer, Crip“, Bloomington/Indiana 2013, frei aus dem Englischen übersetzt).
„Es ist ein Vergnügen, Crip Time zu leben“, schreibt die behinderte Journalistin Srinidhi Raghavan. Sie zeigt, dass sich Crip Time nicht nur auf alltägliche Abläufe wie z. B. Zähneputzen, welches mit einigen Behinderungen eine sehr zeitaufwändige Aktion sein kann, sondern auch auf ganze Lebensphasen bezieht: „Es ist eine Freude, dass sie [andere Behinderte] wissen, dass ich gesund und wie 28 aussehe, mich aber erschöpft und wie 68 fühle. Diese Zeit um uns herum funktioniert anders, und das ist in Ordnung“ (Srinidhi Raghavan, „The value of crip time“, firstpost.com vom 20.6.2020, frei aus dem Englischen übersetzt).
Die Idee, dass nicht wir uns an die Gegebenheiten und die vorgegebenen Zeitfenster, sondern dass sich die Gegebenheiten uns und unseren Bedürfnissen anpassen müssen, passt auch gut zum nachhaltigen Aktivismus, wo ja auch Menschen nahegelegt wird, nicht über ihre Grenzen zu gehen.

Gegen linkes Leistungsdenken

Oft reproduzieren wir in unseren antikapitalistischen Kämpfen Muster, die genau der Leistungsgesellschaft entspringen, die wir eigentlich ablehnen. Zum Beispiel ist die Wertschätzung, die wir erfahren, auch in linken Bewegungen meist abhängig von der Leistung, die wir erbringen. Und wenn Menschen da nicht (mehr) mithalten können, ist auch oft in den Bewegungen kein Platz mehr. (Bzw. wird die Care-Arbeit, die dann nötig wird, als privat und nicht mehr politisch gesehen und dann meist nicht von den Bewegungen getragen.)
Und ja, Behinderte haben von sich aus Körper, die sich der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen. Manchmal werden wir sogar von offizieller Seite für nicht lohnarbeitsfähig erklärt. Mein Körper ist also der Inbegriff der Kapitalismuskritik. Dafür und für vieles andere solltet ihr uns Behinderte feiern und bitte aufhören, uns immer nur als noch ein weiteres schwieriges und anstrengendes Thema zu sehen!
Übrigens ist es auch gar nicht so schwer, Gruppen zugänglicher zu machen. Es ist wie gesagt eine Frage des Willens und der Priorisierung. Ich habe mich z. B. aus dem Klimaaktivismus überwiegend zurückgezogen, obwohl die Klimakrise mich als Behinderte besonders hart trifft. Schon jetzt macht mir die Hitze sehr zu schaffen (sehr viel mehr als in der Zeit, als ich noch gesund war), und dass Behinderte in akuten Katastrophen eher betroffen sind, sollte spätestens nach der Flutkatastrophe im Ahrtal und dem Tod von zwölf behinderten Menschen in Sinzig allen klar sein.

Sich zugänglich zu organisieren ist nicht so schwer

Ich organisiere mich jetzt unter anderem in einer Gruppe, die zum Thema Behinderung arbeitet und mehrheitlich aus Menschen mit sehr unterschiedlichen Behinderungen besteht. Und wir kriegen das hin. Wir machen auch Fehler, aber wir kriegen das hin. Und zwar ziemlich gut. Und wieso? Weil wir fast alle unschöne Erfahrungen damit gemacht haben, ausgeschlossen worden zu sein, und es uns deshalb wichtig ist, dass alle mitmachen können. Weil wir offen dafür sind, von den Bedürfnissen der anderen zu hören und darauf einzugehen. Wir kriegen das hin, obwohl wir mehrheitlich eingeschränkt sind. Ihr kriegt das auch hin, wenn ihr wollt.
Und by the way, ein guter Anfang, mehr Zugänglichkeit zu schaffen, ist es, die Behinderten, die noch oder schon in euren Gruppen sind, zu fragen, wie es ihnen so geht und wie der Zugang für sie besser werden könnte. Denn wie SchwarzRund sagt: In jeder Gruppe sind Behinderte; ihr seht sie nur nicht, weil viele Behinderungen unsichtbar bzw. nicht für jede*n erkennbar sind und Menschen aus verschiedenen Gründen nicht darüber reden. Also fangt damit an, Räume zu öffnen, um über Bedürfnisse zu reden.

Lian Otter