Das Hilfsmittel-Dilemma

Aus GWR 473 Schwerpunkt Ableismus und Barrieren (brechen)

Rollstuhl kaputt in den bestehenden Verhältnissen

Der Kampf um funktionstüchtige und ausreichende Hilfsmittel ist eine zermürbende Daueraufgabe für die Betroffenen, die leicht zur Vollzeitbeschäftigung werden kann. Ununterbrochen stoßen sie auf ableistische Strukturen bei Krankenkassen, Sanitätshäusern und Produzenten, die auf individuelle Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen – die Profitmaximierung steht im Mittelpunkt. Wie es sich anfühlen kann, allein aufgrund von äußeren Einflüssen an die Decke starren zu müssen, beschreibt Joni im Artikel für die Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)

Mein Struggle bezüglich der Hilfsmittel begann vor langer Zeit und dauert immer noch an. Abgesehen von persönlicher Betroffenheit und der Allgegenwärtigkeit des Kampfes in den kapitalistischen Verhältnissen beinhaltet selbiger eine zähe Auseinandersetzung mit Behörden, Krankenkassen und Sanitätshäusern. Zudem ist er geprägt von machtvollen, diskriminierenden Handlungen und einem ständigen „Nicht-ernst-genommen-werden“.

Rollstuhl in der Warteschleife

Mein akutes Hilfsmittel-Dilemma begann für mich im Februar 2022:
Es ging damit los, dass mein Rollstuhl für die Reparatur abgeholt wurde. Er sollte sich von nun an für eine lange Zeit in der Werkstatt befinden und auf Ersatzteile warten. Also musste ich wieder meinen ausrangierten alten Rollstuhl nutzen, um überhaupt unterwegs sein zu können.
Ich verbrachte die Wartezeit mit beinahe täglichen Anrufen bei meinem Sanitätshaus. Mir wurde immer wieder gesagt, dass es Lieferschwierigkeiten aufgrund der Corona-Krise und der Lage in der Ukraine gibt.

Nachdem mein Rollstuhl drei Wochen in der Werkstatt war, ging auch noch mein quasi nicht existenter Ersatzrollstuhl kaputt. Dies hieß, dass ich einen halben Tag im Bett liegen musste. Es war ein Scheißgefühl, mein Bett nicht verlassen zu können, nur weil der Rollstuhl fehlte. Deswegen war ich überglücklich, dass ich meinen Kampf gegen das Sanitätshaus in diesem Moment für mich entscheiden konnte: Denn auf ganz massiven Druck wurde der alte Rollstuhl wieder nutzbar gemacht.
An dieser Stelle möchte ich nun eine Definition von Ableismus vorstellen:
Laut Rebecca Maskos
„ist Ableismus breiter als Behindertenfeindlichkeit. Wie Rassismus und Sexismus bildet der Begriff nicht nur die Praxis im Umgang mit einer Gruppe ab, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen, die diese Praxis hervorbringen. Ableismus zeigt sich nicht nur im schrägen Kommentar oder im Kopfstreicheln, sondern auch in der Treppe ohne Rampe, im fehlenden Aufzug, in den Geldern, die Veranstalter*innen für Gebärdensprachdolmetschen, Live-Streaming oder Leichte Sprache einfach nicht aufbringen wollen. Der Begriff Behindertenfeindlichkeit kann umgekehrt auch suggerieren, dass es reicht, einfach nur die eigene Haltung umzuwandeln – nämlich in eine ‚behindertenfreundliche‘.“ (1)

Ableistische Machtstrukturen im Sanitätshaus

Bis kurz vor Ostern stand ich weiterhin fast täglich mit meinem Sanitätshaus in Kontakt, kannte die Warteschleifen-Melodie auswendig, erlangte jedoch keine neuen Erkenntnisse. Erneut bekam ich die ableistischen Machtstrukturen zu spüren: Erst als meine Mutter auf vehementes Nachfragen zur Einkaufsabteilung weitergeleitet wurde, kam heraus, dass ein falsches Teil bestellt worden war.
Hier wird die ableistische Dimension deutlich, da ich von meinem Sanitätshaus von vorne bis hinten nicht ernst genommen wurde. Ein paar Tage später hatte ich aufgrund des Anrufes meiner Mutter einen Ersatzrollstuhl.
Diesen behelfsmäßigen Ersatz durfte (oder auch musste) ich einige Monate nutzen, bis ich endlich wieder wie gewöhnlich in meinen alltäglichen Rollstuhl einsteigen konnte. Zu guter Letzt muss ich leider hinzufügen, dass mein Rollstuhl seitdem erneut einen Rahmenbruch erlitten hat.

Gewinnmaximierung auf Kosten der Betroffenen

Dieser erneute Rahmenbruch ist eindeutig auf Materialermüdung zurückzuführen. Die Rollstuhlhersteller*innen produzieren schließlich gewinnmaximierend. Dies ist der Fall, da der Hilfsmittelsektor Teil des Marktes und somit auch Teil der kapitalistischen Produktionsweise ist. Ich bin der festen Überzeugung, wir könnten für alle Menschen stabile Rollstühle bauen, wenn in der Produktionsweise dem Interesse und Bedürfnis des Individuums gefolgt werden würde.
Wenn dem nachgekommen werden würde, würden mir die herrschenden Verhältnisse auch nicht mehr vorschreiben, wie oft ich auf Toilette gehen darf. Denn mir als von der Gesellschaft behindertem Menschen stehen nur dreißig Präservative im Monat zu, während die Qualität immer weiter abnimmt (Gewinnmaximierung!). Den individuellen Bedürfnissen steht zusätzlich im Wege, dass mensch aufgrund spezifischer Kooperationsverträge das Sanitätshaus für die eigene Inkontinenzversorgung nicht frei wählen kann.
Diese beiden Beispiele machen deutlich, in was für einer machtvollen Position die Krankenkassen sind.
Jetzt führe ich zu guter Letzt aus, warum der ausrangierte Rollstuhl eigentlich nicht existent ist. Ein Rollstuhl, den mensch bei der Institution „Krankenkasse“ beantragt, ist nicht das Eigentum der nutzenden Person, sondern Eigentum der Krankenkasse. Für diese gilt ein ausrangierter Rollstuhl als wirtschaftlicher Totalschaden – es werden keinerlei Reparaturen mehr gezahlt. De facto ist es so, dass mensch nur Anspruch auf einen einzigen funktionstüchtigen Rollstuhl hat. Seltene Ausnahmen bestätigen die Regel.
An dieser Regelung, der gesamten Erzählung und den letzten zwei kleinen Beispielen wird nach genauem Hinsehen das allgegenwärtige Konkurrenzverhältnis im Kapitalismus deutlich: Die über allem stehenden Interessen der kapitalvermehrenden Teilnehmer*innen des Marktes und die Interessen der Individuen werden gegeneinander ausgespielt, sie stehen sich im Kapitalismus zwangsweise und quasi immer unvereinbar gegenüber. Dies alles ist kein Zufall, denn das Konkurrenzverhältnis wird vom Kapitalismus zum Selbsterhalt benötigt.
Innerhalb dieser Verhältnisse und des Kapitalismus wird meiner Meinung nach keine nennenswerte positive Veränderung für die Individuen stattfinden – womit zu sagen bleibt:
Fight Capitalism and Ableism!

Joni

Anmerkung:
(1) Maskos, Rebecca (2020): Warum Ableismus Nichtbehinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen. Online unter: https://dieneuenorm.de/gesellschaft/ableismus-behindertenfeindlichkeit/ (Zugriff: 06.10.2022).