Queering the crip, cripping the queer

Aus GWR 473 Schwerpunkt Ableismus und Barrieren (brechen)

Behinderte Queers erobern sich die Bühne

Faszinierende Performances, Barrierearmut in entspannter Atmosphäre und neue Kraft für Kämpfe gegen den alltäglichen Ableismus: Ein Festival, das Assoziationen mit der von queeren, behinderten People of Colour entwickelten Disability-Justice-Bewegung weckt, machte vom 9. bis 17. September 2022 deutlich, dass selbstbestimmte Kunst und Kultur auch ohne Ausgrenzung geht. Lian Otter war dort und hat über diese beeindruckenden Tage einen Bericht verfasst.

Im September 2022 war ich auf dem Performance-Festival „queering the crip, cripping the queer“ in den Sophiensaelen in Berlin, und es war wunderbar. Es war eine Zelebration, es war Empowerment, es war Freude, und es war einfach zugänglich für mich.
Was für viele selbstverständlich ist, ist für mich tatsächlich etwas sehr Besonderes.
Seit Jahren bewege ich mich in Räumen und Bewegungen, die für mich nicht mehr zugänglich sind, bzw. kämpfe darum, doch noch irgendwie mitmachen zu können. Zu den Themen, die nicht mit Behinderung zu tun haben, komme ich dabei fast nicht mehr, weil das Kämpfen gegen Bürokratie und um Zugang so viel Zeit und Energie erfordert und oft auch einfach frustrierend ist. Allzu oft muss ich mühsam Informationen zu Barrieren erfragen, und allzu oft höre ich: „Sorry, das haben wir nicht auch noch geschafft mitzudenken!“

Zugänglichkeit als oberste Priorität

Was war also an der Veranstaltung so besonders, und wie haben sie das hingekriegt, was sonst oft so schwer zu sein scheint? Zugang hatte oberste Priorität, und dadurch, dass die machtvolle Position der Kurator*in mit Noa Winter, selbst queer und behindert, besetzt wurde, war Zugang von Anfang an für viele Behinderungen mitgedacht und wurde auf verschiedenen Ebenen umgesetzt: Auf der Webseite gab es viele Informationen über Zugänglichkeit, z. B. dass die Räume rollibefahrbar sind, dass es verschiedene Sitzmöglichkeiten und einen Abholservice gibt. Das war sehr angenehm, weil sonst das Herausfinden von Zugänglichkeitsinfos sehr lange dauern kann. Eins konnte außerdem nachfragen bei Dingen, die nicht beschrieben waren, und bekam auch direkt Antwort. Dabei wurde nicht gefragt, ob eins einen Behinderungsausweis hat, weil erkannt wurde, dass die Behinderungsbürokratie Teil des Problems ist und die am meisten Marginalisierten am wenigsten Zugang zu Unterstützung und Vereinfachungen haben.
Die Performances fanden in entspannter Atmosphäre statt: Eins konnte auf großen Beanbags liegend teilnehmen, konnte den Raum jederzeit verlassen, stimmen oder sich bewegen, wenn eins das Bedürfnis dazu hatte, es wurden viele Pausen gemacht, und generell durfte eins so sein, wie eins es braucht. So entstand ein super angenehmer Raum, in dem Intersektionalität gelebt wurde und ich zum ersten Mal nachfühlen konnte, was einige Disability-Justice-Aktivist*innen wie Leah Lakshmi Piepzna-Samarasina, Patty Berne, sins invalid und andere in ihren Büchern beschreiben: nämlich dass Kunst, die von BIPoC, queer, behinderten Künstler*innen geschaffen wird, so mächtig ist, weil sie Körper und Menschen, die Unterdrückung und Marginalisierung erfahren, zelebriert und Räume schafft, wo andere, empowernde Erzählungen Raum finden.

Joy as an act of resistance

Die Performance von Quiplash, einem queeren Performancekollektiv aus UK, hat so einen Raum für mich geschaffen: Tito Bone, ein außerordentlich sexy blinder Drag King, singt zur Melodie von Whitney Houstons „I will always love you“ eine Liebeserklärung an seinen Blindenstock und führt mit sehr viel Humor durch die zweistündige Show unter dem Motto „Freude als ein Akt des Widerstands“.
Für alles gibt es eine queere Audiodeskription. Tobi Adebajo singt in einer besinnlichen, mystischen Performance: „Yes, we are here queering the crip, cripping the queer, so seek us there, in these othered spaces, tethered spaces. Thatʼs where youʼll find us, come inside, maybe youʼll learn of new ways to care.“ (dt.: „Ja, wir sind hier, queerende Krüppel, krüppelnde Queere, also kommt, schaut vorbei in unseren Räumen der Ausgrenzung, der Eingrenzung. Dort werdet ihr uns finden, kommt herein, vielleicht lernt ihr neue Wege sich umeinander zu kümmern kennen.“) Venetia Blind, eine blinde Drag Queen, performt ein Lied über ihre Erfahrungen, als blinde Person ungefragt angefasst und über die Straße geleitet zu werden, und darüber, wie sie zu „inspiration porn“ gemacht wird (von Nicht-Behinderten zu einer „Inspiration“ erklärt wird), obwohl sie doch nur ihr Leben lebt. Und Ebony Rose Dark macht Lip Sync (Lippensynchronisation), wobei sie dieses auf sehr lustige Weise unterbricht, um zu beschreiben, wie sie performt.

Neue Kraft für weitere Kämpfe

Das miterleben zu dürfen, hat mir sehr viel Energie gegeben und mich ermutigt, weiter zu kämpfen, weil es ein Gefühl gegeben hat, wie es sein könnte, wenn wirklich die, die am meisten am Rand der Gesellschaft stehen – queere, behinderte BIPoC etc. – die Bewegungen anführen und eine Welt erkämpfen, die alle Formen des Existierens zelebriert und die einfach schön ist.
Das Performance-Festival ist vorbei, aber die sehr empfehlenswerte gleichnamige Ausstellung kann eins noch bis 30. Januar 2023 im Schwulen Museum in Berlin ansehen.

Lian Otter

Disability Justice ist eine Bewegung, die von behinderten, queeren BIPoC in den USA als Weiterentwicklung der Behindertenrechtsbewegung, die zu sehr auf die Erfahrungen von weißen cis-Menschen fokussiert war und auch in ihren Forderungen nicht radikal genug das System hinterfragte, initiiert wurde. Es basiert auf zehn Prinzipien, unter anderem Führung durch die am meisten Betroffenen, Intersektionalität, Antikapitalismus, Nachhaltigkeit, Solidarität zwischen verschiedenen Bewegungen, gemeinsame Befreiung …
Spannende Bücher dazu sind „Care Work – dreaming disability justice“ von Leah Lakshmi Piepzna-Samarasina und „Skin, tooth and bone: a disability justice primer“ von sins invalid.